Wusstest du schon, dass Oktopoden …

Sy Montgomerys Rendezvous mit einem Oktopus beschreibt über acht thematisch sortierte Kapitel die Beobachtungen, die sie bei Begegnungen mit verschiedenen Oktopoden in Aquarien sowie in freier Natur angestellt hat. Der Schwerpunkt liegt dabei beim Aufbau von Empathie und einem grundlegenden Verständnis für diese bemerkenswerten Tiere, angereichert um einige nüchterne Fakten als Ergebnis von Forschungen.

Aus der Erkenntnis heraus, dass Oktopoden über ein ausgeprägtes Bewusstsein verfügen, das jedoch ganz anders funktioniert als das menschliche, sucht die Autorin nach Analogien in Religion und Philosophie, und eröffnet damit eine völlig neue Perspektive: Zum einen, dass der Mensch nicht mehr den alleinigen Anspruch auf ein Bewusstsein proklamieren kann, und zum anderen, dass es auf der Erde auch Bewusstseinsformen gibt, die so verschieden zum menschlichen sind, dass wir sie möglicherweise nie begreifen werden können.

Großes Thema, wenig Inhalt

Der Inhalt des Buches ist sehr überschaubar, zumindest was die Beobachtungen und Fakten zu den Eigenschaften der Oktopoden anbelangt. Diese sind ehrlicherweise auf eine das Weltbild erschütternde Weise faszinierend und bewegend, werfen ein neues Licht auf das Leben und den Ozean, aus dem es entstanden ist. 

Rendezvous mit einem Oktopus ist jedoch erklärterweise kein Sachbuch, auch nicht mit dem wohlwollenden Stempel der Populärwissenschaft. Dies ist auch in keinem Kapitel das Ansinnen der Autorin, die von Beginn an ihre Beobachtungen zu den Oktopoden, die sie kennenlernen darf, in den Kontext eigener Erlebnisse, Empfindungen und der Schicksale von Menschen, die sie bei ihren Beobachtungen begleiten, setzt. Nach dem ersten Drittel des Buches erscheinen die Ausführungen zu den Oktopoden tatsächlich mehr wie ein Anker für all die anderen Schilderungen, die die Autorin aus dem Umfeld ihres Daseins erfasst, als ein Fokusthema, während sich die Beobachtungen und Gedanken zu den Tieren zu wiederholen beginnen. Es ist erschreckend, dass das Nachwort von Donna Leon das Buch auf wenigen Seiten auf seinen faktischen Kern herunterbrechen kann, ohne dass man das Gefühl bekommt, dass etwas Essentielles über die Oktopoden vergessen wurde.

Ein ethisches Armutszeugnis

Die Diskussion über artgerechte Haltung von Tieren in Zoos und Aquarien erreicht nur langsam die breite Masse der Gesellschaft. Das an dieser Stelle weiter auszuführen, würde den Rahmen sprengen. Mission Erde von Robert Marc Lehmann ist hier eine gute Absprungstelle. Doch auch ohne Wissen darüber, wie die Tiere in ihre Gehege kommen (nur die wenigsten werden in Gefangenschaft geboren) und wie ihr Leben im Vergleich zur freien Wildbahn aussieht, sollte einem doch Folgendes zu denken geben: Rendezvous mit einem Oktopus wurde (vermeintlich) nur geschrieben, um aufzuzeigen, wie intelligent, empathisch, charakterstark, gewitzt, gelehrig, neugierig Oktopoden sind. Es sind Tiere mit einem Bewusstsein, das sie nicht nur zur bewussten Wahrnehmung ihres Umfelds befähigt, sondern sie auch bewusste Entscheidungen treffen lässt und es ihnen gestattet, Lösungen für ihnen unbekannte, kognitiv und motorisch komplexe Probleme bzw. Herausforderungen zu finden. Und eines dieser Tiere, welches der Autorin sogar ans Herz gewachsen ist, lebt in einem “200 Liter Gurkenfass”. Ein Fass ohne Inhalt. Einfach ein leeres Fass. Über Monate – und damit einen Großteil seines Lebens hinweg.

Stellt die Autorin das infrage? Viel zu lange nicht. Erst reichlich spät, am Ende des Buches wird erstmals reflektiert, ob die Haltungsumstände den Tieren angemessen sind. In den letzten Kapiteln beschreibt die Autorin auch wenigstens ansatzweise, wie die Tiere gefangen und dann transportiert werden. Wenn da jedoch eine Silbe des unterschwelligen Mitleids mitschwingt, ist das schon viel. Was eine wichtige Sollbruchstelle sein könnte, um zu proklamieren, dass nur die Freiheit ein artgerechtes Leben ermöglicht, kommt nicht über das Stadium des Mitleids hinaus. 

Stattdessen wird wieder ein persönliches Interesse formuliert, dass man es nicht übers Herz bringen würde, sich von dem Tier zu trennen und es deswegen lieber in Gefangenschaft hält, trotz oder weil die baulichen Umstände im Aquarium nichts anderes ermöglichen. Im gleichen Kontext überlegt das Aquarium, die Behausungen zweier Oktopoden zu tauschen, was beiden gut tun würde, entscheidet sich dann aber dagegen, weil die Eier des einen Oktopus ein Publikumsmagnet seien. Auch als es zum tragischen Verlust kommt, empfinde ich kein Mitgefühl, denn die Beteiligten werfen sich vor, das Gefängnis nicht sicher genug gemacht zu haben – nicht etwa, das Tier überhaupt erst gefangen zu haben.

Ein Buch von erschreckender Doppelmoral

Genauso werden im Verlauf des Buches Einblicke in Forschungsmethoden gegeben, wie etwa das Durchtrennen von Nervenbahnen oder das gezielte Blenden – ohne jegliche ethische Reflektion. Mit keinem Wort wertet Sy Montgomery das, was sie beschreibt, sondern erweckt vielmehr den Anschein, dass diese Form der Forschung nur dazu beitragen würde, die Tiere besser zu verstehen. Sie seien “Botschafter der Natur” und sie würden dabei helfen, dass die Menschen sie verstehen. Das ist gewissermaßen sicherlich ein valider Standpunkt. Und gleichzeitig einer, der von der Autorin unkommentiert bleibt – denn es sind nicht einmal ihre eigenen Worte, sondern Aussagen eines Tierfängers.

Es ist schlichtweg ein Buch der Doppelmoral: So interessant und faszinierend die Beobachtungen über die Tiere sind, so grausam ist doch mitunter der Preis. Und dass dies mit keiner Silbe reflektiert wird, im Gegenteil, dass Aquarien als wundervolle Orte hochromantisiert werden, ist erschreckend. Und das in einem Buch, das sich damit rühmt, Einblicke in das Denken und Fühlen der Tiere zu geben. 

Dass das Aquarium, in dem sich die Autorin die meiste Zeit aufgehalten hat, dabei vielleicht nicht ganz so schlimm ist, weil die Verantwortlichen eben alles Menschenmögliche tun, kann darüber nicht hinwegtäuschen, dass Aquarien im Allgemeinen für Tiere ein beengendes, unnatürliches Gefängnis sind. Zumal sich ja erweist, dass das Menschenmögliche oft genug schlichtweg nicht ausreicht, während das Buch immer wieder demonstriert, dass wir Menschen gerade erst am Anfang dessen stehen, was man ein Verständnis für Tiere nennen könnte. 

Ein paar Seiten nach dem Tod eines der für das Buch zentralen Oktopoden versucht eine Person, eine andere damit zu trösten, dass ja jetzt ein neuer Oktopus kommen würde und das auch etwas Schönes sei. Dieses einfache “Austauschen” steht sinnbildlich für dieses Buch. Und umso schwerer wiegt die Antwort der Person, die getröstet werden sollte: Ein neuer Oktopus ist eben nicht derselbe. Diese einfache, ehrliche Antwort führte all die in ihrer Spiritualität, Religiosität, Philosophie und Emotionalität überfrachteten Selbstdarstellungen der Autorin ad absurdum.

Ein Drama nach Shakespeare

Stattdessen ergeht sich die Autorin immer wieder in Schilderungen zu ihren Schwierigkeiten und Schmerzen beim Tauchen und harmonisierenden Sidekicks, in denen sie die Menschen, denen sie begegnet, und ihre teils grausamen Schicksale der Öffentlichkeit ausbreitet und damit ein Kontrastprogramm anbietet, bei dem der Leser so viel Mitleid mit den Personen hat, das für das Leid der Tiere keine Gedanken mehr übrigbleiben. Was im Übrigen keine Herabwürdigung menschlicher Schicksale sein soll, sondern lediglich eine Kritik an der Dramaturgie der Erzählung. Und so verfestigt sich immer mehr und immer wieder der Eindruck: Es geht in Rendezvous mit einem Oktopus nur um persönliches Interesse, nicht aber um die Tiere an sich. Ironischerweise zitiert das Buch Shakespeares Hamlet: “Solch Gegensatz herrscht zwischen Wolln und Tun / Dass unsre Absicht ewig wird zerstört.” Es schmerzt, dass, obwohl diese Worte an der eingesetzten Stelle genau das Gegenteil meinen sollten, sie das Grundproblem dieses Buches auf den Punkt bringen.

(Was Shakespeare übrigens nicht passiert wäre, sind die für mich beim Lesen nicht nachvollziehbaren Sprünge zwischen Präsens und Präteritum – um mal noch eine sprachliche Kritik mit einzubauen.)

Das Dilemma von Zweck und Mitteln

Man muss Sy Montgomery zugute halten, dass sie mit ihren Beobachtungen und dem Buch eine Lanze für die Ozeane und seine aus menschlicher Sicht wundersamen Bewohner bricht. Man muss ihr dazu gratulieren, dass das Buch ein solcher Erfolg geworden ist und viele Menschen erreicht hat. Und das allein muss ausreichen, um Rendezvous mit einem Oktopus seinen Platz in der Welt einzuräumen und es wertzuschätzen. Ich gebe auch zu, dass mich das Ende des Buches, und das zu dem Zeitpunkt dann mittlerweile völlig unerwartet, emotional berührt hat. Es bleibt jedoch der schale Beigeschmack, dass dieses Buch, das uns Empathie vermitteln möchte, an so vielen Stellen doch noch Empathie vermissen lässt und auf Verhaltens- und Denkmustern beruht, die es eigentlich zu erschüttern sucht. Shakespeares Hamlet ließe sich auch hier durchaus wieder zitieren.

Das Buch wirbt auf dem Einband mit dem Zitat von Peter Wohlleben, dass, wer dieses Buch gelesen habe, die Seele der Ozeane verstehen würde. Sofern dies mit einschließt, dass eine Seele auch von Schmerz gezeichnet sein kann, stimme ich dem zu.

Bibliografische Angaben

Titel: Rendezvous mit einem Oktopus
Autor: Sy Montgomery
Genre: Erlebnisbericht
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-24453-3
Erscheinungsjahr: 2019
Format (Umfang): Taschenbuch (384 Seiten)