Eine Gorilladame mit vielen Talenten
Die Gorilladame Sally Jones ist eine hervorragende Maschinistin, die gerne zur See fährt, ein großes Herz hat und lesen und schreiben kann. In Lissabon muss sie miterleben, wie ihr Freund, der Kapitän Henry Koskela, wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hat, ins Gefängnis gesteckt wird. Um ihm zu helfen, macht sich Sally Jones auf die Suche nach Beweisen, die ihn entlasten.
So beginnt für sie eine lange Odyssee, die sie über Alexandria bis nach Indien führt. Sie lernt, Musikinstrumente zu reparieren und Flugzeugmotoren in Schuss zu halten, dass Friedhofswärter an Gespenster glauben, dass Musik eine ganz wunderbare Kraft hat, dass dreihöckrige Kamele seekrank werden können – und dass man immer an das Gute im Menschen hoffen und gleichzeitig auf das Gegenteil gefasst sein sollte.
Ein Buch für Erwachsene, das auch Kinder lesen können
Sally Jones – Mord ohne Leiche ist eigentlich ein Kinderbuch, ein Jugendroman. Eigentlich. Denn selten hat sich eine Kategorisierung für mich so irreführend angefühlt. Die Figuren und ihre behutsame Einführung, die zeichnerische Gestaltung der Kapitel und Protagonisten, die Verknüpfung der Handlungsstränge, der großzügige Seitensatz, die überschaubaren Kapitel, die einfache, klar strukturierte, eindeutig formulierte Sprache – das alles ermöglicht es sicher auch jungen Lesern, dieses wunderbare Buch zu lesen und in die großartige Geschichte einzutauchen. Doch während es sicher Bücher gibt, die auch nur dieses Publikum ernsthaft ansprechen, gelingt es Sally Jones – Mord ohne Leiche, auch erwachsene Leser zu fesseln. Und somit ist dieses Buch, das mich von der ersten Seite weg schwer begeistert hat, in meinen Augen ein Buch für alle, das eben aber auch Kinder und Jugendliche lesen können. Das allein ist schon alle Ehren wert. Ich ziehe meinen Hut.
Die Sprache ist Trumpf
Sally Jones bekommt eine Schreibmaschine geschenkt, repariert sie und beginnt dann damit, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, um damit ihre Alpträume loszuwerden. Das ist das Konzept des Buches, und es funktioniert großartig. Natürlich erwartet man von einer Gorilladame keine sprachliche Raffinesse, man ist schon beeindruckt, dass sie schreiben kann. Und so fügt sich die klare, einfache Sprache perfekt in das Gesamtbild des Buches, und das nicht auf störende, künstlich kleingehaltene Weise, sondern als eine ganz natürliche Stilistik. Sally Jones nimmt den Leser mit von einer Erinnerung zur nächsten, erklärt besonnen und aufrichtig die Gefühle und Emotionen, die sie spürt und beobachtet – und erinnert sich in der Regel auch gut daran, was es zu essen und zu trinken gab. Dabei helfen ihr auch die Sinne, die beim Gorilla etwas besser ausgeprägt sind als beim Menschen – insbesondere die Nase -, was das Erzählspektrum noch erweitert. Und wenn einmal die Perspektive gewechselt wird, man also nicht das unmittelbare Geschehen um Sally Jones erfährt, so wird das szenisch erklärt – beispielsweise indem Sally Jones sich auf entsprechende Berichte, die ihr später zu Ohren gekommen seien, beruft.
Ein Gesamtkunstwerk, das mich schwärmen lässt
Sally Jones – Mord ohne Leiche ist kein Bilderbuch. Doch der Einband, das Kartenmaterial, die Galerie mit den Portraits von den Protagonisten und jedes einzelne Kapitel sind mit Illustrationen versehen, die in ihrem einzigartigen, leicht düsteren Stil noch einmal unterstreichen, dass sich das Buch nicht nur an junge Leser richtet. Oder um es an dieser Stelle einmal ganz anders zu formulieren: Ein Erwachsener, der dieses Buch als Kinderkram zur Seite legt, tut dies vermutlich vor allem aus Ego-Gründen. So. Nun ist es raus. Alle anderen haben mit diesem Buch sehr wahrscheinlich eine wunderbare Zeit. Die Illustrationen, um das noch zuende zu bringen, stammen übrigens ebenfalls von Autor Jakob Wegelius.
Und nun möchte es noch ein letztes Mal betonen: Die Charaktere, das Setting, die Zeit, in der die Geschichte spielt, der Rahmen mit der Gorilladame, die Flugzeug- und Schiffsmotoren repariert und Schreibmaschine schreibt – das alles passt so großartig zusammen. Aus der Nähe betrachtet fragt man sich bei jedem inhaltlichen wie stilistischen Detail wohl, wie das mit dem nächsten zusammenpassen soll. Doch im Gesamten kommt man nicht umhin festzustellen, dass alles perfekt ineinandergreift, das große Ganze nichts anderes ist als stimmig und logisch.
Es ist schwer, über dieses Buch nicht zu schwärmen, und noch viel schwerer, damit wieder aufzuhören. Darum bringe ich es auf den Punkt: Selten habe ich mich so sehr darüber gefreut, dass es einen zweiten Teil gibt, wie bei Sally Jones – Mord ohne Leiche.
Bibliografische Angaben
Titel: Sally Jones – Mord ohne Leiche
Autor: Jakob Wegelius
Genre: Roman, Kinderbuch
Verlag: Gerstenberg
ISBN: 978-3-8369-5874-5
Erscheinungsdatum: 2022
Format (Umfang): Hardcover (624 Seiten)