Eine Revolution für ein Fahrrad
Großvater und Herbert sind zwei Freunde, die in ihrem abgeschiedenen Dorf nicht viel vom Zauber der Goldenen Zwanziger mit- und abbekommen. Der Wunsch nach einem Fahrrad wird zum Sinnbild für ihre Sehnsucht nach den Abenteuern und Möglichkeiten der weiten Welt, und so treten sie der Kommunistischen Partei bei, deren Funktionär ihnen genau das verspricht: ein Fahrrad.
Der Preis dafür ist ein Beitrag zur kommunistischen Revolution zur Niederwerfung des Kapitalismus – etwas, das in seinen Auswirkungen ebenso unberechenbar ist wie seine eigentliche Bedeutung nebulös und die Mittel dazu mindestens zweifelhaft. Und so beginnt für Großvater eine Odyssee durch Europa, bei der er erst mit guten Absichten die falschen Mittel wählt und schließlich zum Spielball von Menschen wird, deren Motivation für die Weltrevolution nicht ganz so uneigennützig sind, wie das Parteitraktat es eigentlich vorsieht.
Zwischen karikativer Skurrilität und vermittelter Bodenständigkeit
Zunächst: Was für ein Buchtitel! Als Vater im Jahr 1927 in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen. Ich bin unentschlossen, ob ich ihn mit all seiner Sperrigkeit genial oder sonderbar finde. Wahrscheinlich beides, mit Tendenz zu Ersterem.
Dabei ist das Buch viel weniger skurril, als es den Anschein erwecken möchte. Die Charaktere sind genauso karikativ überzeichnet wie einzelne Szenen – beispielsweise als Großvater sich tatsächlich schwimmend vom Dorfbach in die nächste Stadt treiben lässt, weil das eben die schnellste Art zu reisen ist -, die Botschaften sind es jedoch nicht. Im Gegenteil, die kommen im Verlauf des Buches sehr klar heraus. Es geht um die Fadenscheinigkeit ideeller, populistischer Manipulation und Versprechen, um die Sehnsucht nach einer besseren Welt (sowohl für sich selbst als auch für die Allgemeinheit), um die beschränkten, verzweifelten Mittel, die einem als isoliertes Individuum gegeben sind, um Naivität, Harmoniebedürftigkeit und den Glauben an das Gute und wie diese Eigenschaften im Großen wie im Kleinen ausgenutzt werden, und letztendlich um etwas, mit dem ich voll und ganz d’accord bin: Wenn du etwas verändern willst, dann beginne damit in deiner eigenen Welt, nämlich deinem direkten, persönlichen Umfeld. Es sind Botschaften, die sich ohne Abstriche in unsere heutige Zeit übertragen lassen, allem gesellschaftlichen und materiellen Fortschritts zum Trotz.
Ungewohnte Perspektive, erfrischende Mittel
Sprachlich sind zwei Dinge auffällig. Zum einen die Erzählperspektive: Als Vater im Jahr 1927 in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen ist komplett aus Sicht des Enkels des Protagonisten verfasst, womit sich die Detaillierung von Szenen und Geschehnissen auf das Wesentliche reduziert. Das Geschehen wird damit gebündelt und stringent erzählt, um bei Schlüsselszenen akzentuierte Spotlights setzen zu können.
Zum anderen wählt Lothar Becker immer wieder das sprachliche Mittel der Wiederholung. Was am Anfang wie unnötige inhaltliche Redundanz wirkt, entpuppt sich mit der Zeit als sehr wirksame Wegbereitung für eine Pointe. Hat man einen Sinn für derartige Sprachspiele, lockern diese Passagen den Lesefluss enorm auf und tragen maßgeblich dazu bei, die so verpackten Intentionen mit Ironie und Skurrilität zu würzen.
Toller Titel, tolles Buch
Insgesamt ist Lothar Becker mit Als Vater im Jahr 1927 in den Dorfbach sprang, um die Welrevolutoin in Gang zu setzen (ich lege mich jetzt fest: ich finde den Titel super!) ein kleines, leicht verdauliches, dadurch aber nicht minder aussagekräftiges Juwel gelungen, auf das ich ohne den Titel möglicherweise nicht aufmerksam geworden wäre. Denn auch wenn es weder meine Zeit noch mein Thema ist, so habe ich das Buch doch vormittags in die Hand genommen und abends erst wieder aus der Hand gelegt, als ich es durch hatte. Die Figur des Großvaters war für mich ein absoluter Identifikationsanker, sein Willen und Unwillen nachvollziehbar, sein Handeln, Denken und Streben absolut authentisch. Selbiges gilt für alle anderen Charaktere, die guten wie die schlechten, denn Lothar Becker gelingt es, auch deren Beweggründe knapp, aber ausreichend zu beleuchten. Und sprachlich hat mich der Roman abgeholt, auch wenn insbesondere der repetitive Stil ohne Frage das Potential zum Polarisieren hat.
Bibliografische Angaben
Titel: Als Großvater im Jahr 1927 in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen
Autor: Lothar Becker
Genre: Roman
Verlag: Carpathia Verlag
ISBN: 978-3-943709-85-8
Erscheinungsdatum: 2020
Format (Umfang): Hardcover (251 Seiten)